thomas lang

t h o m a s l a n g . n e t

Gebrochenes Herz

Am 16.7.23 las ich aus »Freinacht« und sprach mit den Teilehmerinnen und Teilnehmern einer Schreibwerkstatt von Fabienne Pakleppa ( Münchner TheaterAtelier ) über das Buch und über meine Arbeit. Eine Teilnehmerin, Christiane Samara, fertigte während des Workshops eine Handarbeit an. Ein Foto ihrer Arbeit schickte sie mir ein paar Tage später per Mail. Dieses beeindruckende Bild möchte ich mit euch teilen. Sie schrieb dazu:

„….. am gebrochenen Herzen der jugendlichen Kinder hängen die Fragen herunter …..“

(c) Christiane Samara

Vier Abende in der Favorit Bar

Ein diskursives Projekt von Thomas Lang (Schriftsteller), Christian Schüle (Philosoph) und Thomas Thiede (Künstler) mit Gästen.

Idee des MODIProject ist die interdisziplinäre Vernetzung von Menschen und Institutionen auf der Folie des literarischen Werkes Moby-Dick von Herman Melville (1851).

Der bis heute aktuelle Jahrhundertroman aus der Epoche der aufbrechenden Moderne und Industriellen Revolution beschreibt und reflektiert zahlreiche Themen, die uns gegenwätig weiter und verschärft umtreiben – Interkulturalität, Verhältnis Mensch und Natur, Ästhetik als moralische Kategorie, Handwerk versus industrielle Produktion, Legitimation von Gewalt, Identität, Motivation von Rachekreisläufen und mehr.

Ausgehend von einem künstlerischen, mithin zweckfreien Blick auf die Fülle an Themen, möchten wir ein Netzwerk aufbauen, indem wir Gäste zu performativen Gesprächen einladen.

Auftakt Montag, 21.3.2022 170 Jahre Moby-Dick! Wir ehren ein großartiges Stück Literatur mit Lesung, Gespräch und Musik. Wir fragen, warum uns Melvilles Roman bis heute in den Bann schlägt. Gespräch: Thomas Lang, Christian Schüle, Thomas Thiede und das Publikum. Lesung: Matthias Hirth Musik: Evi Keglmaier und Anton Gruber

Seehoheit Montag, 28.3.2022 Thomas Lang im Gespräch mit Benedikt Funke (Deutsches Museum, Abteilung Schifffahrt) über Sklaven und Handel, Recht und Flüchtende auf dem Meer.

Rache Montag, 25.4.2022 Christian Schüle im Gespräch mit N. N. über Rache, Hass und die Frage nach Strafe und Schuld.

Weiß Montag, 2.5.2022 Thomas Thiede im Gespräch mit Dr. Theres Rohde (Direktorin des MMK Ingolstadt) über das Weiß aus der Perspektive der Kunst. Musik: Evi Keglmaier und Anton Gruber

Beginn ist jeweils um 20.30 Uhr (Einlass 20 Uhr). Der  Eintritt ist frei. Ort ist die Favorit Bar in der Damenstiftstr. 12, München. Bitte beachten Sie die geltenden Infektionsschutzbestimmungen.

Was wir jagen, wenn wir Moby Dick jagen

Wie sich die Lesarten des vor 170 Jahren erschienenen Romans von Herman Melville verändert haben, vom allegorischen oder symbolischen in eine sehr konkrete, auf unseren Umgang mit den Walen und der Natur als solcher bezogene, war Gegenstand eines kurzen Vortrags, den ich am 3. Juli beim Mahler-Forum in Klagenfurt gehalten habe. Für Gustav Mahler war die Natur ein zentraler Bezugskpunkt seiner Kompositionen.

Mahler hat sich vor 120 Jahren ein »Komponierhäuschen« oberhalb der Wörthersees bauen lassen, in das er sommers bereits am frühen Morgen ging, um in der Waldeinsamkeit seine Musik zu schaffen. Direkt neben diesem Haus fand der 2. Teil des Forums statt. Es ging darum, „unsere eigene Position in dem, was wir »Natur« nennen, neu zu erfahren“. Das Programm des Forums findet sich hier.

Klagenfurter Literaturkurs

1999 war ich Teilnehmer beim Klagenfurter Literaturkurs, 2021 war ich einer der Tutoren. Das ist eine besondere Schreibwerkstatt, weil es dabei nicht um Übungen oder das Entwickeln von Ideen geht. Vielmehr senden die Bewerber einen Prosaext von etwa zehn Seiten Länge ein. 3 erfahrene Autoren, in diesem Jahr Annette Hug, Ludwig Laher und ich, begutachten die Texte, befragen und beschnüffeln sie von allen Seiten, packen sie an ihren Schwachstellen und versuchen sie aufs Kreuz zu legen – heben aber auch ihre Schönheiten und Stärken hervor und fördern ihre Qualitäten.

Das hat mir großes Vergnügen bereitet und ich durfte lernen, dass es da draußen immer noch Menschen gibt, denen das Schreiben sehr wichtig ist. Wichtig für mich war 99 neben den Tutorengesprächen, den Lesewettbewerb als Zuschauer schon mal kennen lernen zu dürfen. Als ich 2005 selbst am Wettbewerb teilnahm, waren mir das Studio, die Wege, die Atmosphäre vertraut. Das reduzierte den Stress. Unsere jungen Autoren konnten den Bewerb diesmal leider nur im Public Viewing ansehen. Die Jury war im Studio isoliert …

Wer wissen will, wie die jungen Leute den Kurs erlebt haben, findet kurze Interviews in Format »Sprachzimmer« des Robert-Musil-Museums Klagenfurt hier.

Emily Dickinson – Serie vs Spielfilm

Auf artechock ist eben meine Betrachtung über die völlig unterschiedlichen Filme erschienen, die Emily Dickinsons Leben erzählen – A Quiet Passion von Mike Davies und Dickinson von Alena Smith. Beide könnten gegensätzlicher kaum sein. Cunst tritt an gegen Comedy – nur was folgt daraus?

»… In der nächsten Szene steigt Emily zum Tod in die Kutsche. Sie trägt ein knall­rotes Kleid und der Tod, ein ultra­läs­siger Typ mit Zylinder und Brille (gespielt vom Rapper Wiz Khalifa), sagt ihr, dass sie die einzige aus der Familie ist, über die man in zwei­hun­dert Jahren noch sprechen wird …« Mehr lest ihr hier.

»Freinacht« – Das Hörspiel

Am Samstag, dem 8. Mai, wird die Hörspielfassung meines Romans »Freinacht« gesendet. Ich glaube, dass ein spannendes und bewegendes Ohrendrama entstanden ist, und wer möchte, kann am Samstag den Bayern-2-Knopf an seinem Radio drücken. Online geht natürlich auch.

Samstag, 8.5.21 ab 15.05 Uhr: »Freinacht« – Das Hörspiel

Anschließend könnt ihr mich im Gespräch mit Thomas Kretschmer über das Hörspiel und die wahre Begebenheit, auf der es fußt, hören: „Der Wirklichkeit gerecht werden“ (bis 16.23 Uhr)

Darum geht es (In den Worten des BR):

Bei der Geburtstagsfeier der 16-jährigen Elle auf dem stillgelegten Bahngelände einer Kleinstadt stößt ihre Clique auf die Leiche eines erfrorenen Mannes. Die Situation eskaliert, aus einem Witz wird eine Tat, die Jugendlichen prügeln auf den Toten ein, machen Fotos und Filme. Diese Nacht ändert ihr Leben schlagartig. Vor allem für Elle stellen sich Fragen. Wer war der Mann? Wie konnte es so weit kommen? Als die Tat auffliegt und ein medialer Sturm folgt, ist in Elles Gedankenwelt der Tote bereits zum ständigen Begleiter geworden, mit dem sie stille Zwiesprache hält. Nach einer wahren Begebenheit entwickelte Thomas Lang ein Hörspiel über Ziellosigkeit und Verantwortung, Schuld und Sühne. Freinacht ist ein dunkles Gesellschaftsspiel. Es zeigt die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, wie das Erwachsenwerden zur existenziellen Herausforderung wird – aber auch, dass die Wahl besteht, eine falsche Entscheidung nicht das weitere Leben bestimmen zu lassen.

En Passant – Performance

Am 29.4.21 haben Christina Bitter und ich zusammen eine Aktion in Bamberg gemacht. »En Passant« legte den Akzent auf das Entstehen von Bildern und Texten und thematisierte die Verbindung-Trennung zwischen Performierenden (in einem geschlossenen Laden) und Passierenden (im öffentlichen Raum davor).

Marie Castner schrieb dazu im Fränkischen Tag (5.3.12, der Gesamtartikel ist leider hinter der Paywall versteckt):

« Von den zwei Schlagworten ausgehend folgen die beiden im künstlerischen Prozess ihren spontanen Eingebungen – assoziativ. „Aus dem Moment heraus“, nennt es Lang. So entstehen Strich für Strich, Wort für Wort ihre Werke. Ist Lang mit seinem Text fertig, druckt er ihn aus und hängt ihn neben von Bitters Bild. Im leeren Ladenraum hinter ihn liegen die fertigen Arbeiten. […]

„Es ist ein Work in Progress“, sagt von Bitter. „Es geht weniger um das Ergebnis, sondern die Menschen sollen an unserer Arbeit teilhaben. Wir wollen eine Kommunikation mit den Bürgern herstellen.“ Wenn in Pandemie-Zeiten schon kein direkter Austausch möglich ist, dann eben ein indirekter: Das Schaufenster isoliert, schützt aber auch alle Beteiligten. Gleichzeitig bleiben die Kulturschaffenden sichtbar. »

Brief an meine Eltern

Ende April 2020 schrieb ich den dritten und letzten Essay, in dem ich mich mit der ersten Zeit der Pandemie befasst habe. Mein Vater ist wenige Wochen darauf – nicht an Covid – verstorben. Der Brief erschien im Magazin Hundertvierzehn des Fischer-Verlags.

Liebe Eltern,

dies ist der erste Brief, den ich euch seit etwa vierzig Jahren schreibe. Vor über dreißig Jahren haben unsere Wege sich getrennt, ich bin am Main und später an der Isar gelandet, ihr wohnt seit Ewigkeiten nicht allzu weit vom Rhein. Dort harrt ihr aus, du, Vater, seit neunzig Jahren in demselben Ort. Ich kann mich noch erinnern, ich war zehn, dass wir ein Telefon bekamen. Bis dahin kam die Nachbarin, wenn jemand anrief, und holte uns. Heute liegt ein Glasfaserkabel in eurem Keller, der Router hängt an der Wand, doch ihr wollt kein Internet. Ihr braucht kein Smartphone, das Festnetz und der Fernseher reichen euch aus. Und mir reichten drei, vier Besuche jedes Jahr – für ein paar Tage, seit achtzehn Jahren meistens mit Familie oder wenigstens den Kindern. Du, Mutter, wurdest neunzig, wir feierten im Januar mit Kindern, Enkeln und dem Urenkel. Wir hatten keine Vorstellung davon, wie sich bald alles ändern sollte. Die Feier wollten wir nicht auslassen, weil es die letzte sein könnte. Aber das war auch bereits seit Jahren so.

Zum nächsten neunzigsten im Mai wird es nun keine Feier geben. Die Blumenbeete blieben dieses Frühjahr liegen, es wächst, was wächst. Ihr bleibt im Haus, da lebt ihr sowieso ganz vorwiegend, seit das Auto nur noch in der Garage steht. Der Pflegedienst kommt jeden Tag, meine Geschwister bringen Lebensmittel und helfen euch im Alltag. Kontaktbeschränkungen sind euch nicht neu. Ihr sagtet mir am Telefon, dass ihr keine Angst vor dieser Krankheit hättet. Ihr erwartet ja den Tod und vielleicht haben wir Kinder mehr Angst vor eurem Sterben als ihr selbst. Als ihr aufwuchst, herrschte Krieg, ihr habt schlimmere Tage gesehen. Vielleicht rührt daher eure Gelassenheit oder eher, will mir scheinen, Ergebenheit, eure Haltung, gegen die ich schon oft protestiert habe, man müsse alles nehmen, wie es kommt.

Jetzt ist es also so gekommen. Wir sind beschränkt, das ist für die, die nach euch kamen, ein seltsames Gefühl. Wir kriegten die mildeste Ahnung von dem, was Mangel heißen könnte, was Ausgangssperre, was willkürliches Sterben. Ich kenne das von euren Geschichten, und ohne etwas in der Art erlebt zu haben, spüre ich: Es ist kein Vergleich. Doch etwas schwingt, ihr redet plötzlich wieder davon, wie der Krieg begann, wie die Geschäfte sich leerten, wie die Leute verschwanden.

Wir dagegen erleben ein Als-ob. Ich kenne Leute, die seit vielen Wochen quasi eingesperrt sind – wir haben Freunde in Mailand, in New York, in Paris. Ich weiß, dass sie die Sense lauter sausen hören als wir, dass Tausende Gestorbene sich als Zahl auf einen senken können wie ein schweres nasses Tuch. Zum Glück sind sie alle „safe“; persönlich kenne ich keinen, weiß von keinem, der oder die schwer krank oder tot wäre. Das Sterben ist so unsichtbar, dass schon behauptet wurde, die Rate hätte sich nicht mal erhöht. Gerade lesen wir: Sie ist gestiegen. Es sterben Abertausende mehr als üblich. Sie bleiben nur unseren Blicken entzogen. Die gruseligen Lkw-Kolonnen, die man von Italien zeigte (ihr habt’s im Fernsehen auch gesehen), die in Plastik gehüllten Toten, die man in New York mit Gabelstaplern in die Kühlwagen hob, werden wohl das ikonografische Bild der Seuche bleiben.

Aber hat nicht der Ausnahmezustand auch etwas Angenehmes? Die wirtschaftliche Bedrohung hat viele schon erfasst, für viele steht sie jedoch noch unscharf im Hintergrund. Das menschliche Kalkül: vielleicht entkomme ich, vielleicht geht es ja gut. Das trägt uns weiter. (Ihr würdet eher sagen: es kommt, wie es kommt.) Nie zuvor bin ich so gern durch die Stadt geradelt wie heute, fast jeden Tag für ein paar Stunden ins Büro. Nie habe ich die reine Luft lieber eingesogen, den blanken Himmel am Tag wie in der Nacht betrachtet, nie war die Ruhe einer Metropole schöner und schmerzhafter in Einem.

Seit Wochen unterrichte ich eure jüngste Enkelin und lerne selbst manches dabei. Es ist eine Herausforderung, weil viel Arbeitszeit verloren geht bzw. ich meinen Tag verlängern muss, bis ich abends erschöpft bin. Aber es ist auch eine Köstlichkeit, so nah und ausgedehnt mit meinem Kind zusammen zu sein, von seinen Stimmungswechseln, seinem Seelenleben so viel mehr mitzukriegen als sonst. Ich denke jetzt manchmal daran, wie ich, im gleichen Alter, bei euch (damals bei uns) daheim am Küchentisch saß und meine Aufgaben machte.

Dann wieder überfällt es mich, besonders morgens, bevor die anderen aufstehen: die Welt ist aus den Fugen. Sie könnte noch viel mehr aus den Fugen gehen, sie könnte untergehen, wie wir sie kennen. Die Toten sind real. Ich denke wieder an euch, und wie gefährdet ihr trotz allem seid. Ich denke zurück an meine erste Tätigkeit, als ich euer Haus verließ – meinen Zivildienst in einem Altersheim. „Seniorenwohnpark“ nannte sich das.

Ich erinnere mich gut, wie es war, wenn jemand von den alten Leuten auf unserer Station damals starb. Und es fasst mich an, ich kriege weiche Knie, wenn ich mir Heime vorstellen muss, deren Bewohner gerade zu Dutzenden weggerafft werden. Als würde einer durch die Flure gehen und links und rechts mit einem Fingerschnippen die Köpfe hintüberkippen lassen auf ihre Brust. – Genauso falsch fühlt es sich an. Deshalb mache ich alles mit, was uns jetzt „zugemutet“ wird. Ich will, dass es sofort und für immer aufhört. Sicherheit ist immer auch die Sicherheit der anderen. Sie ist es zur Zeit in ganz erster Linie. Ich weiß, dass ich nicht der einzige bin, der so denkt. Ich schreibe es euch, ohne zu wissen, ob ihr so denkt, ob es für euch diese Bedeutung hat. Das ist mehr ein Als-ob.

Bleibt behütet, liebe Eltern. Ich verstehe nun etwas mehr von euch, von eurer alten Angst, von der Beschränkung, mit der ihr aufgewachsen seid. Ich hoffe, wir sehen uns noch in diesem Jahr.

Die Zeit des Wünschens

Am 15. April 2020 sendete die Bayern-2-Kulturwelt einen Essay von mir, den zweiten aus der ersten Zeit des Covid-Schocks. Hier stelle ich ihn noch mal ein für alle, die ihn nachlesen möchten:

Seit Wochen habe ich nicht mehr gehört, dass München die nördlichste Stadt Italiens sei. Nachmittags auf der Piazza zu sitzen, mit den Nachbarn zu plaudern und einen Bitter zu genießen – dieses Bild war vielleicht früher schon etwas geschönt, und für die Nachahmung fehlte uns letztlich die Lebensart. Nun verschwindet aber das echte Italien in einem gierigen Schlund, der rülpsend die Knochen seiner Mahlzeit hochwürgt – leere Plätze, Bilder von Militärlastern und Ansammlungen nur noch von Särgen. Das war vor zwei Wochen; von diesen Bildern haben wir uns abgewandt.

Auch von den Zahlen haben wir uns abgewandt, sie haben ihre Fähigkeit eingebüßt, unser Mitleid zu erregen, sie faszinieren uns nicht mehr. Die Europäische Gemeinschaft leistet ihren Offenbarungseid, indem sie um Milliarden zankt und ihre einzig übrige Idee die Wirtschaft ist. Sie zeigt sich unfähig, nur tausend Kinder aus Flüchtlingslagern aufzunehmen, wo selbst die Zigtausend, die auf den griechischen Inseln ausharren, in unseren Bevölkerungen unmerklich Platz finden würden.

Das Gebot der Stunde lautet Solidarität. Verbundenheit. Wie zeige ich sie und mit wem? Praktisch jede unsere Handlungen wird unter diesem Gesichtspunkt geschärft. Wie viele Lebensmittel kaufe ich ein und wie viel lasse ich für die anderen? Wie genau nehme ich es mit dem Abstandhalten? Schließe ich noch meine Kinder in den Arm, wenn ich ein Kratzen im Hals spüre? Mache ich meine Grillparty im Hof und hoffe, dass mich keiner verpfeift, oder lass ich es lieber bleiben? Diese Fragen sind keineswegs trivial. Lassen wir uns den Mund verbinden oder gleich verbieten? Muss ich mich dem Kollektiv überlassen oder darf ich noch eine individuelle Haltung pflegen? Was sind die Kosten?

Nehmen wir zum Beispiel die Schutzmasken, einfache Sorte, auch Mund-Nasen-Schutz oder MNS genannt. Das Robert-Koch-Institut schreibt, dass die Schutzwirkung dieser Masken, nicht erwiesen sei. Dennoch könnten sie bei akuten Atemwegsinfektionen helfen,

     „das Risiko zu verringern, andere Menschen anzustecken.“

Das klingt nach einem naturwissenschaftlichen Jein.

Und so geht es mit einer unendlichen Reihe von Dingen. Was macht es mit Dementen, wenn ihre Nächsten sie nicht mehr besuchen dürfen. Wie bringt man sie dazu, nicht mehr in die Zimmer anderer Bewohner zu laufen. Aber auch: Warum haben wir Heime, in denen weit über hundert alte Menschen konzentriert sind? Was macht es mit unseren Kindern, ihre Freunde nicht mehr sehen zu dürfen und keinen geregelten Unterricht zu haben? Meine jüngste ist schon zwei Monaten nicht mehr zur Schule gegangen. Wie viel muss ich daheim sein, um sie unterstützen, und wie viel an meinem Arbeitsplatz, um sie mitzuernähren?

Was bedeutet Verbundenheit? Ich kümmere mich um meine eigene Familie, das ist einfach. Aber schon hier kann es Risse geben, kleine Verteilungskämpfe oder abweichende Vorstellungen über die Frage, wie streng die Einschränkungen für Ausgehen, Einkaufen, Kontakt mit anderen Menschen einzuhalten sind. Wie stelle ich mich zu den Autorenkollegen, deren Bücher dieses Frühjahr im Nirgendwo stranden, kann ich Ihnen beistehen, muss ich für sie zurückstehen und darf ich mich selbst noch äußern, ohne ihnen das Letzte an Aufmerksamkeit zu stehlen? Muss ich Gutscheine kaufen, damit geschlossene Geschäfte später wieder öffnen können, soll ich die immunschwachen Völker Brasiliens in den Blick nehmen oder lieber auf die Senioren in der Nachbarschaft achtgeben?

Das alles ist nicht neu, wir wägen Tag für Tag die Dinge ab. Neu oder besonders ist die Dimension. Denn eine falsche Abwägung kann Leben kosten. Und wir wissen nicht in jedem Fall, wo unsere individuelle Verantwortung beginnt und wo sie endet.

Gegen das Unwissen spreche ich Wünsche aus. Ich wünsche mir von der Politik, dass sie sich über das Symbolische hinaus solidarisch zeigt, gegenüber unsern Freunden in Italien und Spanien und weiter weg. Ich wünsche mir, dass wir nicht gespalten werden in eingesperrte Alte und Kranke hie und frei lebende Gesunde und Junge da.

Ich wünsche mir, dass man uns Verantwortlichkeit zutraut, statt aus dem Smartphone eine elektronische Fußfessel zu machen. Ich wünsche mir, dass die Luft rein bleibt und mancher Jogger und Radler weniger stur wird. Ich wünsche mir, dass wir weiterhin die Vielen bleiben, die sich freundlich und leicht verlegen begegnen nach dem Motto: nimm’s mir nicht übel, wenn ich einen Bogen um dich mache. Ich wünsche mir, dass wenig Leute sterben, vom Rhein bis an den Amazonas, den Hudson River, den Jang-Tse, den Kongo. Ich will an andere denken und ich wünsche mir, dass andere auch mich nicht vergessen.

Denn diese Zeit ist auch voll Hoffnung auf unsere Findigkeit und Kraft. Es gibt viel anzupacken, und sei es vorerst nur vom blöden Schreibtisch aus.